Lässt sich eine Tasse, die im Fallen begriffen ist, kurz vorm Aufprall noch auffangen? Lässt sich ihr Zerscherben verhindern? Wenn die Reflexe stimmen, schon – und deshalb stürmt in vollendeter Zeitlupe das gesamte fünfzehnköpfige Ensemble herbei, um den Sturzflug des gelben Porzellans aufzuhalten. Wie Skulpturen eines Heldendenkmals, angeordnet zur aufstrebenden Pyramide, schauen die Menschen zum jungen Mann in ihrer Mitte empor, der die überdimensionierte, aus dem Himmel schwebende Tasse zu stützen versucht wie einst Atlas die Weltkugel. Dann friert das Schlussbild ein. Bange Blicke allerorten. Ende der »100 Songs« von Roland Schimmelpfennig – und zugleich der vielversprechende Auftakt der neuen Intendanz in der tri-bühne.
Fast fünf Jahrzehnte lang hat Edith Koerber das im Tagblattturm untergebrachte Theater geleitet. Mit ihrer künstlerischen Handschrift – spielfreudig, originell, unerschrocken politisch – hat die 74-jährige Patronin ein beeindruckendes Lebenswerk hinterlassen, das es nicht nur zu pflegen, sondern auch weiterzuentwickeln gilt. Die neue Doppelspitze scheint für diese entschieden der Zukunft zugewandte Traditionsarbeit wie geschaffen zu sein: der Ungar László Bagossy als künstlerischer Leiter des Hauses sowie Stefan Kirchknopf als Geschäftsführer. Beide sind der tri-bühne schon lange verbunden, und beide wirken auch persönlich in der ersten Inszenierung der Nach-Koerber-Ära mit. Bagossy führt Regie, gemeinsam mit zwei seiner ungarischen Studenten, und bringt als Ensemble fast das gesamte Haus auf die Bühne, neben Profis eben auch Angestellte aus Technik und Verwaltung inklusive des Geschäftsführers, der in »100 Songs« unter anderem den »Mann mit einem zufriedenen Lächeln« verkörpert: Er hat gerade »gevögelt«. Er hat aber auch – als Co-Intendant Kirchknopf – den glücklichen Aufbruch eines munter spielenden Theaterkollektivs erlebt.
Dass beim Neustart in der tri-bühne jeder mitgenommen wird, darf man programmatisch verstehen. Dass dabei ein »Requiem« gespielt wird, vielleicht auch – denn darum handelt es sich beim Schimmelpfennig-Stück, um eine Totenmesse, die dem Autor und seinem kongenialen Regisseur freilich die Möglichkeit gibt, das Leben mit all seinen Reichtümern zu feiern. »Kennst du das, wenn du das Radio anmachst, und dann läuft da dieser Song, und du musst einfach lächeln?« fragt der Mann. Ja, wir kennen das, und deshalb leuchtet die Machart des Stücks ein, die Lieblingssongs der leise lächelnden Figuren zum Soundtrack ihrer letzten Lebensminuten zu machen. Im Radio läuft »Betty Davies Eyes«, als Sally, der Kellnerin, die Tasse aus der Hand fällt, weil sie und alle anderen auf dem Bahnsteig und im Zug in dieser schrecklichen Nanosekunde von der Bombe in die Luft gesprengt werden… Aber davor unter Bagossys Regie: eine allerletzte Hoffnung, die Apokalypse doch noch stoppen zu können und ein Ensemble, das seine Spielwut auslebt, Schicksale aufleuchten und verglühen lässt, wunderbare 100 Songs singt und sie mit Schlagzeug, Bass, Gitarre und Keyboard live begleitet. Kurzum: ein Feuerwerk an Kreativität, das Lust auf die upgedatete, das Stuttgarter Theaterleben enorm bereichernde tri-bühne macht. Weiter so – dann wird alles gut!
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