Ist der alte Kaiser auf dem Karlsplatz noch zeitgemäß? Jetzt wird Wilhelm I. gestürzt – vom eigenen Pferd!… Unser Kolumnist hat … eine unterhaltsame und bedrückende Geschichtsstunde erlebt. Nicht aus Sicht der Herrschenden will der historische Ansatz »Geschichte von unten« die Vergangenheit greifbar machen. Vielmehr sollen die meist übergangenen Untertanen zu Wort kommen.
Seit über 120 Jahren thront Kaiser Wilhelm I., obwohl er absolut kein Württemberger ist, mitten in Stuttgart auf dem nicht mal nach ihm benannten Karlsplatz. In dieser langen Zeit hatte der Regent einen treuen Diener unter sich, um den sich bisher kein Historiker oder keine Historikerin geschert hat. Erzählt mal was vom Pferd! Ist höchste Zeit! In der emotional zupackenden Performance von Gerhard D. Wulf wird das Ross, das Wappentier der Stadt, zum Revolutionär! Was für ein geistreiches Vergnügen!
…Dies hätte Antonia Visconti (gespielt von Theresa Mußmacher) gut gefallen, die zum Ende des 14. Jahrhunderts gegen ihren Willen von den Eltern nach Württemberg geschickt worden ist, um aus adelspolitischen Gründen Graf Eberhard den Milden (Manuel Krstanovic) zu heiraten. Von Schick in Mailand ging´s in die tiefe Provinz. Daheim in Mailand, wo sie geboren ist, hörte die Visconti, Württemberg sei ein kaltes und dunkles Land. Dort würden die Menschen sauren Wein trinken, und ihre Sprache sei ein »fremdartiges Murmeln«. Als frühere Hausherrin des Alten Schlosses erfreute sich die Italienerin an dem »Lustgarten« vor ihrem Wohnsitz, der noch nicht frei zugänglich war und heute als Karlsplatz bekannt ist. Als 1778 Herzog Carl Eugen von Ludwigsburg zurück nach Stuttgart zog, ließ er das Grundstück rund ums Schloss planieren. Bis heute heißt die Straße dort Planie.
»Des Kaisers letztes Pferd« ist eine unterhaltsame, aber auch bedrückende Geschichtsstunde, einfühlsam gespielt und in Szene gesetzt. Vor dem historischem Volksfest mag darüber gestritten werden, ob Protagonisten in Königskostümen eine Verherrlichung der Monarchie bedeuten, in der Dürnitz wird deutlich, wie wichtig es ist, wenn persönliche Geschichten erzählt werden – die lassen Geschichte besser verstehen. Ein Gestapo-Mann und eine Delinquentin im Hotel Silber kommen vor, die Juden Alice und Leo Allmeyer, die von den Nazis deportiert wurden (an der Eberhardstraße ist ihnen ein Stolperstein gewidmet, und viele mehr. Fridays for Future wird erwähnt – und vor einem kulturlosen Metropol wird gewarnt.
Seit Kriegsende ist mehrfach diskutiert worden, ob das Reiterstandbild vom Karlsplatz verschwinden sollte. Kaiser Wilhelm I. war längst verblichen, als König Wilhelm II. (nein, es ist nicht sein Sohn) 1898 das Denkmal für ihn enthüllte, um zu zeigen, dass sich Württemberg zugehörig zum Kaiserreich fühlt. Der Kaiser hat das Sozialistengesetz erlassen (damit die Arbeiterrechte eingeschränkt), den Paragrafen 175 eingeführt, der homosexuelle Handlungen verboten hat – keine Dinge, auf die man heute stolz sein kann. Den Vorschlag gab‹s, den Karlsplatz in einen »Clara-Zetkin-Platz« umzutaufen.
Das Pferd wird zum Revolutionär und lehnt sich gegen den Kaiser auf – ist das erst der Anfang? Autor Wulf setzt sich dafür ein, historische Zeugnisse an Ort und Stelle zu belassen. Dies biete die Vorlage, sich mit Geschichte zu befassen – sehr wichtig sei dies, um die Zukunft meistern zu können. Stadtgeschichte erlebt in vielen Bereichen ein Comeback. Das hat sie verdient.
weniger