Ist der alte Kaiser auf dem Karlsplatz noch zeitgemäß? Jetzt wird Wilhelm I. gestürzt – vom eigenen Pferd! Die Dürnitz im Alten Schloss begeistert als neue Kulturlocation. Unser Kolumnist hat dort eine unterhaltsame und bedrückende Geschichtsstunde erlebt.
Nicht aus Sicht der Herrschenden will der historische Ansatz »Geschichte von unten« die Vergangenheit greifbar machen. Vielmehr sollen die meist übergangenen Untertanen zu Wort kommen.
Seit über 120 Jahren thront Kaiser Wilhelm I., obwohl er absolut kein Württemberger ist, mitten in Stuttgart auf dem nicht mal nach ihm benannten Karlsplatz. In dieser langen Zeit hatte der Regent einen treuen Diener unter sich, um den sich bisher kein Historiker oder keine Historikerin geschert hat. Erzählt mal was vom Pferd! Ist höchste Zeit!
In der emotional zupackenden Performance von Gerhard D. Wulf wird das Ross, das Wappentier der Stadt, zum Revolutionär! Was für ein geistreiches Vergnügen!
Das Pferd, das den Kaiser nach über 120 Jahren endlich abwirft, feiert Premiere in der im vergangenen Herbst eröffneten Dürnitz, im neu gestalteten Museumsfoyer des Alten Schlosses. Zwischen Sofas und Säulen, beim Selbstbedienungscafé fühlen sich viele Stadtgänger sehr wohl – in einer besonderen Mischung aus fürstlich und cool. Kostenloses, starkes WLAN und bester Espresso sind tagsüber wachsende Anziehungspunkte – abends wird der gemütliche Ort nun aber auch zunehmend für Kultur genutzt.
»Die Akustik ist super«, lobt hinterher Manuel Krstanovic, der das Pferd und weitere historische Figuren in »Des Kaisers letztes Pferd« spielt, in der Produktion der tri-bühne. Das begeisterte Publikum freut sich mit Intendantin Edith Koerber über die neue Kulturstätte, die ihre Bewährungsprobe als Performancebühne optimal besteht.
Im Mittelalter war die Dürnitz das soziale Zentrum des Alten Schlosses und diente als beheizter Gemeinschaftsraum und Speisesaal. Nach dem Umbau knüpft das Foyer jetzt an die historische Nutzung an. Viele Gäste kommen mittlerweile mit dem Laptop in die Dürnitz, um dank der WLAN-Verbindung arbeiten zu können oder sich mit Freunden auf einen Kaffee zu verabreden. Wer glaubt, ein Landesmuseum sei eine verstaubte Einrichtung, wird an diesem neuen Wohlfühlort eines Besseren belehrt.
Dies hätte Antonia Visconti (gespielt von Theresa Mußmacher) gut gefallen, die zum Ende des 14. Jahrhunderts gegen ihren Willen von den Eltern nach Württemberg geschickt worden ist, um aus adelspolitischen Gründen Graf Eberhard den Milden zu heiraten. Von Schick in Mailand ging‹s in die tiefe Provinz. Daheim in Mailand, wo sie geboren ist, hörte die Visconti, Württemberg sei ein kaltes und dunkles Land. Dort würden die Menschen sauren Wein trinken, und ihre Sprache sei ein »fremdartiges Murmeln«. Als frühere Hausherrin des Alten Schlosses erfreute sich die Italienerin an dem »Lustgarten« vor ihrem Wohnsitz, der noch nicht frei zugänglich war und heute als Karlsplatz bekannt ist. Als 1778 Herzog Carl Eugen von Ludwigsburg zurück nach Stuttgart zog, ließ er das Grundstück rund ums Schloss planieren. Bis heute heißt die Straße dort Planie.
»Des Kaisers letztes Pferd« ist eine unterhaltsame, aber auch bedrückende Geschichtsstunde, einfühlsam gespielt und in Szene gesetzt. Vor dem historischem Volksfest mag darüber gestritten werden, ob Protagonisten in Königskostümen eine Verherrlichung der Monarchie bedeuten, in der Dürnitz wird deutlich, wie wichtig es ist, wenn persönliche Geschichten erzählt werden – die lassen Geschichte besser verstehen. Ein Gestapo-Mann und eine Delinquentin im Hotel Silber kommen vor, die Juden Alice und Leo Allmeyer, die von den Nazis deportiert wurden (an der Eberhardstraße ist ihnen ein Stolperstein gewidmet, und viele mehr. Fridays for Future wird erwähnt – und vor einem kulturlosen Metropol wird gewarnt.
Seit Kriegsende ist mehrfach diskutiert worden, ob das Reiterstandbild vom Karlsplatz verschwinden sollte. Kaiser Wilhelm I. war längst verblichen, als König Wilhelm II. (nein, es ist nicht sein Sohn) 1898 das Denkmal für ihn enthüllte, um zu zeigen, dass sich Württemberg zugehörig zum Kaiserreich fühlt. Der Kaiser hat das Sozialistengesetz erlassen (damit die Arbeiterrechte eingeschränkt), den Paragrafen 175 eingeführt, der homosexuelle Handlungen verboten hat – keine Dinge, auf die man heute stolz sein kann. Den Vorschlag gab‹s, den Karlsplatz in einen »Clara-Zetkin-Platz« umzutaufen.
In der Dürnitz wird das Pferd zum Revolutionär und lehnt sich gegen den Kaiser auf – ist das erst der Anfang? Autor Wulf setzt sich dafür ein, historische Zeugnisse an Ort und Stelle zu belassen. Dies biete die Vorlage, sich mit Geschichte zu befassen – sehr wichtig sei dies, um die Zukunft meistern zu können. Stadtgeschichte erlebt in vielen Bereichen ein Comeback. Das hat sie verdient.
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