Little Brother - Wir schenken Leben!

Little Brother - Wir schenken Leben!

Ein Spiel um Leben oder Tod in 7 Runden um 777.000 Euro
von D. Life

Ensemble-Projekt.

Vor über fünf Jahren ging der Nesenbachkanal zum ersten Mal auf Sendung, um den ganz normalen Wahnsinn eines Fernsehalltags auf’s Korn zu nehmen. Ein Jahr wurde »gesendet«, dann musste die Inszenierung anderen Produktionen Platz machen. Mittlerweile wurde die Eskalationsschraube der deutschen Fernsehlandschaft ein gehöriges Stück angezogen und uns wurde klar: Die Arbeit des Nesenbachkanals muss weitergehen und zeigen, wie das deutsche (Privat-)Fernsehen in wenigen Jahren aussehen könnte.

Wie beim ersten Mal ist der »Nesenbachkanal« eine Produktion des Ensembles, bei der aus schauspielerischer Improvisation ein Abend entsteht, der formal dem Fernsehen nachempfunden ist.

Die reality show »Little Brother – Wir schenken Leben!« ist ein Spiel, ein Spiel allerdings, das das Überleben zum Inhalt hat. Die Regeln besagen: Die Würde des Menschen ist antastbar.

Ein Isolationsexperiment jeder gegen jeden im Kampf um die Zuschauer. Dem Sieger winkt ein hohes Preisgeld. Für die Teilnehmer ein perfides Mobbing-Training, eine psychische Belastung – eventuelle Folgeschäden sind nicht ausgeschlossen. Die einzigen Vorgaben sind die Struktur der Show und die Lebensläufe der Kandidaten. Sie werden für jede Vorstellung neu ausgedacht und bleiben geheim. Die Schauspieler sehen sich in ihrer Figur tatsächlich zum erstem Mal während der Show. Alles ist deshalb improvisiert, Ablauf und Ausgang des Abends sind jedesmal völlig unterschiedlich.

Uraufführung am Donnerstag, dem 4. Mai 2000.

Kritiken

KULTUR | 1.6.2000

Geballte schauspielerische Kraft

»Die acht auf den Brettern der tri-bühne stellen Menschen dar, die sich mit der Aussicht auf viel Geld dem Experiment eines privaten Senders ausliefern. So weit die Simulation einer bekannten Reality-Soap. Doch mit der Festlegung der Kandidaten auf Suizidüberlebende wird die von den Privaten angepeilte nächste Umdrehung beim Höherschrauben des Unterhaltungswertes vorweggenommen. Applaus verdient die Stuttgarter Inszenierung einmal für die Idee, nicht länger auf einen Autor zu warten, sondern mit der geballten schauspielerischen Kraft das Big-Brother-Syndrom in die Zange zu nehmen. Bei der Uraufführung ist es der Truppe jedenfalls gelungen, an der Nichtexistenz eines Textes keinen Zweifel zu lassen. Kurze Dialoge, herausgeschleuderte Sätze, Selbstgespräche – die Unmöglichkeit der Kommunikation in der verordneten Gesprächsrunde. Es gab Angst, Tränen, Wutausbrüche, Mobbing und Mitleid und am Ende noch einen Flirt.«

Gabriele Hoffmann
Stuttgarter Nachrichten | 8.5.2000

Mit sarkastischem Biss

»Als sie vor drei Jahren ihren ›Nesenbachkanal‹ zum ersten Mal auf Sendung gehen ließ, konnte sich die tri-bühne in Stuttgart noch darauf beschränken, die Banalität deutscher TV-Unterhaltung zu persiflieren.

Seitdem hat sich die Spirale der Menschenverachtung, die via Talk-Shows und Reality-Soaps über unsere Bildschirme flimmert, dermaßen weiter gedreht, dass sich das Ensemble genötigt sah, darauf mit einer bitterbösen ›Fernseh‹-Satire zu reagieren. Die wurde jetzt unter dem Titel ›Little Brother – Wir schenken Leben!‹ als fantasievolle, witzige ›Reality-TV-Show‹ uraufgeführt…

Mit sarkastischem Biss… nimmt das Ensemble der tri-bühne das immer mehr um sich greifende Virus des Voyeurismus und der Geldgier sowie deren Vermarktung aufs Korn. Gehemmt die einen, abgebrüht die anderen, plaudern die Kandidaten Privates und Intimes aus.

Eine Versammlung der Orientierungslosen auf der krampfhaften Suche nach ein wenig Bedeutung. Schüchternheit prallt auf Rücksichtslosigkeit. Man hört sich scheinbar aufmerksam zu oder versucht, mit provokativem Desinteresse und Aggressivität beim Publikum Punkte zu sammeln…

Alle Probanden verbindet eines: Sie liefern sich vorsätzlich einer profitgierigen Medienmafia als ›Arbeitsmaterial‹ aus, das nach Benutzen hemmungslos weggeworfen wird.«

Horst Lohr
Stuttgarter Zeitung | 6.5.2000

Entlarvend, intelligent, gemein

»Acht Kandidaten beim Seelenstriptease, wer bis zum Schluss durchhält, bekommt 777.000 Euro.

Aus aktuellem Anlass hat die tri-bühne nun ein Stück auf die Bühne gebracht, das eigentlich gar kein Stück ist. ›Little brother‹ ist der kleine Bruder von ›Big brother‹, ist die TV-Show auf dem Theater. Die Schauspielerinnen und Schauspieler der tri-bühne haben sich Biografien zurechtgelegt. In der simulierten Sendung werden sie aufeinander losgelassen wie die Kandidaten im Container. Nach jeder Gesprächsrunde fliegt einer raus. Psychoterror zur Unterhaltung. Der, der übrig bleibt, wird seines Lebens nicht mehr froh werden-trotz 777 000 Euro.

Die Akteure der tri-bühne, angeführt von Edith Koerber als lieblich-fieser Moderatorin, liefern eine höchst bissige und verblüffend überzeugende Parodie auf das Fernsehen von heute. Es ist schaurig komisch, wie sie in ihren fiktiven Rollen ihr Innerstes entblättern, wie sie sich schikanieren, mobben, kritisieren, wie sie gruppendynamisch agieren. ›Ja, heult die jetzt oder was‹, sagt Evelyn da angewidert, oder ›So ne blöde Frage‹ oder ›Red nicht immer so langsam‹. Schonungslos direkt, verletzend, willig der Lust auf Sensationen folgend…

Ein Spiel zwischen Realität und Fiktion, entlarvend, intelligent, gemein. Ein Experiment, das den Rahmen des Theaters sprengt – und gerade deshalb durchaus innovativ ist.«

Adrienne Braun