Tarelkin - der Vampir

Tarelkin - der Vampir

(Tarelkins Tod)
von Alexander Suchowo-Kobylin |
Regie: Gábor Székely

Eine schärfere und zugleich vergnüglichere Satire gegen die Korruption im Staatsdienst ist für die Bühne bis heute nicht geschrieben worden. Der russische Autor Suchowo-Kobylin, der im 19. Jahrhundert lebte, hat die Verhältnisse seines Landes und seiner Zeit aufs Korn genommen, aber nicht erst seit den undurchsichtigen Steueraffären prominenter Zeitgenossen sind uns die mal raffinierten, mal dummdreisten Machenschaften zum Zwecke der illegalen Geldvermehrung wohlbekannt, so sie ans Tageslicht kommen.

Der kleine Beamte Tarelkin macht es bestimmten Tierarten nach, die mit dem sogenannten Scheintodreflex ausweglosen Situation zu entkommen versuchen: Er stellt sich mausetot.

Hoffnungslos verschuldet, aber im Besitz wichtiger Dokumente, nutzt er den Tod eines begüterten Mannes aus, indem er sich selbst »sterben« läßt und die Identität des tatsächlich Verstorbenen annimmt.

Um seinen eigenen Tod glaubhafter zu gestalten und ihn in den Geruch der Ewigkeit zu tauchen, legt er einige tote Fische in seinen Sarg.

Kompliziert? Für die Polizei nicht. Sie glaubt den toten Fischen, Tarelkin scheint davongekommen zu sein. Leider ist aber die Obrigkeit, insbesondere Tarelkins Vorgesetzter, sehr beunruhigt wegen besagter Dokumente. Sie würden nämlich die korrupten Verhältnisse höheren Orts entlarven. Eine gnadenlose Jagd beginnt nach einem sehr lebendigen Leichnam – mit Hilfe von Polizisten, die selber nicht wissen dürfen, nach wem und was sie eigentlich suchen… Der einzige, der in diesem Stück wirklich im Bilde ist, das ist der Zuschauer. Und auch er weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.

Premiere am Dienstag, dem 22. Oktober 1996.

Kritiken

Stuttgarter Nachrichten | 25.10.1996

Phantastisch skurril

»In einer interessanten Mixtur aus temporeicher Bestandsaufnahme à la Dario Fo und phantasievoller Commedia dell’arte wurde die Maske zum alles beherrschenden Requisit eines Theaterabends, der die listenreiche Verstellung und die Gesichtslosigkeit von Menschen zum Thema macht: Tarelkin… (Edith Koerber) beschließt, nach seinem Tode keineswegs die ewige Ruhe zu genießen, sondern in Anbetracht der hochbrisanten Dokumente, die er zu Lebzeiten seinem Vorgesetzten, dem Konventionaloberinspektor Warrawin (Günther Seywirth) entwendet hat, als Untoter (sprich: Vampir) weiter zu wirken. Da Warrawin selbst keinerlei Interesse daran hat, daß höchste Stellen diese Dokumente zugespielt bekommen, setzt er den Polizeiapparat in Bewegung. Der schreckt seinerseits vor keiner Schandtat zurück, um den Untoten erstens gefügig zu machen und um zweitens von unbedarften Dritten mittels Folter Geständnisse zu erpressen, die den Toten noch toter machen könnten, als er ohnehin schon ist.

Ein phantastisch skurriler Plot, eine irrwitzige Komposition…«

Hanna Mainzer
Stuttgarter Zeitung | 24.10.1996

Zur Hochform aufgelaufen

»Suchowo-Kobylin ist kein verfrühter Kafka und auch kein verspäteter Kleist. Er zeichnet die Ohnmacht des Menschen vor der Beamtenwillkür nicht in beklemmend schwarzen Bildern, und er entschuldigt die Verfehlungen der Richter auch nicht mit Allzumenschlichem. Statt dessen entwirft er eine grausame Satire über einen gesetzlosen Polizeistaat und das monströse Porträt einer egoistischen Gesellschaft. In der tri-bühne kommt das Unrecht und die Amoralität als brutale blutige Farce daher… Es ist schon erstaunlich, welch vielfältige Ausprägungen das Böse haben kann, und diese präzise Typologisierung macht auch die Stärke der Inszenierung aus: wieder einmal laufen die Schauspieler der tri-bühne zur Hochform auf. Günther Seywirth gibt den Konventionaloberinspektor Warrawin als einen süßlich-freundlichen und zugleich brandgefährlichen Diktator. Edith Koerber spielt den vermeintlich toten Tarelkin; wie sie greisenhaft in die Welt schaut und zahnlos vor sich hin zischelt, evoziert kühle Bedrohlichkeit.

Aber unter all den Bösen ist Rasplujew (Stephan Korves) der eigentliche Antiheld des Abends. Er sieht in seiner grauen Uniform aus wie eine Mischung aus sowjetischem General und amerikanischem Sheriff. Vom kleinen duckmäuserischen Polizisten schwingt er sich zum kaltblütigen Untersuchungsrichter auf, der sich an seiner Macht berauscht und ohne jede Rücksicht auf Moral oder Gesetz Menschen verhört, verhaftet und vernichtet – Korves führt hier so eindringlich die Macht als Droge vor, daß es einen schaudern kann…

Beängstigend und belustigend ist diese todernste Farce: Eine solch eigenartige Mischung sieht man selten.«

Thomas Faltin
Süddeutscher Rundfunk | 23.10.1996

Jeder Auftritt zum Lachen

»Regisseur Gábor Székely aus Budapest läßt in Halbmasken spielen. Alle Figuren sind Typen, jeder Auftritt zum Lachen. Edith Koerber spielt Tarelkin und Kopilow, zwei tote Beamte also, aber doppelt lebendig mit einer Stimme wie eine rostige Gießkanne. Stephan Korves ist der ewig hungrige Bezirkspolizeiwachtmeister; er legt eine Freß- und Sauforgie so wohlig stöhnend hin, als müsse er den halben Etat dieser Inszenierung vertilgen. Günther Seywirth kann sich den aasigen Charme des höchsten Vorgesetzten leisten, dieweil es ihn aus Angst vor erpresserischen Papieren schier zerreißt. Hannelore Bähr ist, rotmähnig bebrillt, ein so schrilles Weib, daß jeder Mann erschreckt vor ihr zur Wand sich wenden täte – pardon, der Polizist redet so geschraubt. Fragt sich, woher sie trotzdem drei Kinder hat. Und eine richtig böse Szene gab es auch: Zwei Polizisten mit zwei Schlagstöcken und einem Eimer für das Blut formieren sich zu einer Foltermaschine – und Achim Grauer, ein simpler Hausmeister, leidet tierisch inmitten der feixenden Farce.«

Winfried Roesner